INTERVENTIONEN Internationales, interdisziplinäres Symposium, Universität Paderborn 29.- 31.10.2010

(Englisch version see below)


INTERVENTIONEN – der Titel des Symposiums bezieht sich auf eine neue Tendenz und transnationale Bewegung an den Grenzen von Kunst, Politik und Ökonomie, die sich seit den 1990er Jahren in unterschiedlichen ästhetischen und gesellschaftspolitischen Bereichen bemerkbar macht. Eine Bewegung, die sich gleichwohl nicht als Phänomen im Sinne einer künstlerischen oder politischen Gruppenbildung beschreiben lässt. Weit eher scheint sie theoretisch im Kontext einer globalen Gegenbewegung zum fortschreitenden Neoliberalismus sowie zum etablierten Kunstbetrieb fassbar zu sein. Der ursprünglich (wie der Begriff der Avantgarde) aus dem militärischen Bereich stammende Begriff der Intervention, der das Vermitteln und Eingreifen in (krisenhaften) Situationen beschreibt, versammelt vergleichbare und zugleich heterogene und sehr ausdifferenzierte Formen künstlerischen Handelns, die sich auf konkrete soziale und politische Situationen und Problemstellungen beziehen. Diese können auch in Räume und Institutionen der Kunst hineingetragen werden, haben ihren Ort jedoch zunehmend im Alltag, auf der Straße, in der öffentlichen Sphäre, im physischen Raum der Städte und in spezifisch ausdifferenzierten medialen Räumen, insbesondere auch im Netz/Web. Künstlerische Interventionen bewegen sich auf dem Terrain der Anti-Globalisierungsbewegung ebenso wie auf dem Gebiet der Gentechnologie und des Managements multi-nationaler Konzerne, greifen Formen des modernen Nomadentums am Rande der Gesellschaft ebenso auf wie alle gesellschaftlichen Bereiche ergreifende Formen des ‚Branding’ (Naomi Klein).

Seit Ende der 1990er Jahre machen große internationale Ausstellungen wie die Documenta 9, 10 und 11, die Biennale 2003 und die Manifesta 5 das Politische in der Kunst (erneut) zum Thema. 2004 eröffnet das ARTFORUM in den USA eine ‚political season’, in der erstmals auch den Interventionisten eine Ausstellung gewidmet ist (‚The Interventionists. Art in the Social Sphere’ im MASS MoCA 2004), der u.a. die großen Ausstellungen zur Street Art in Berlin und London 2008 folgen. Parallel zu dieser Entwicklung findet eine Neubewertung der historischen Vorläufer der interventionistischen Bewegung, der historischen Avantgarden und insbesondere der situationistischen Internationale und ihres Theoretikers Guy Debord in Publikationen, Konferenzen und Ausstellungen statt. Die Herstellung von orts- oder zeitspezifischen Situationen bildet zugleich ein Modell für neue Kunstformen, aber zunehmend auch für neue Marketing-Konzepte (situationistisches Marketing, Guerilla-Marketing-Kampagnen etc.).

Das Symposium führt WissenschaftlerInnen aus unterschiedlichen Disziplinen (der Kunst-, Medien- und Theaterwissenschaft, der Philosophie, Soziologie und Ethnologie, der Politik- und Rechtswissenschaft sowie der Urbanistik) und KünstlerInnen aus verschiedenen Feldern interventionistischen Handelns sowie AusstellungskuratorInnen in einem Dialog zusammen. Ziel des Symposiums ist eine aktuelle Bestandsaufnahme und Bewertung der Entwicklung interventionistischer Praktiken hinsichtlich der Bedingungen des Verhältnisses von Kunst, Politik und Ökonomie und der daraus resultierenden Handlungs- und Erscheinungsformen der Künste, der konkreten Veränderungen und Möglichkeiten in ausdifferenzierten Feldern ästhetischer und politischer Praxis. Die Befragung einer neuen Bilanzierung und Balancierung des Verhältnisses von Kunst und Politik geht von der Notwendigkeit der Neubestimmung der Rolle des Künstlers – dessen, was Künstler historisch und aktuell ‚machen’ und ‚was sie in Zukunft sein und tun können’ (Richard Serra) – sowie der Befragung und Beschreibung des aktuellen Wandels der Konturen, Konzeptionen und Zirkulation von Kunst aus. In diesem Zusammenhang ist auch nach der Herausbildung und den Paradigmen eines neuen ‚Regimes der Künste’ (Jacques Rancière) zu fragen.

Besonders relevant sind dabei die Veränderung traditioneller (ästhetischer) Kulturkritik durch ökonomiekritische Aspekte sowie Faktoren der Integration und Desintegration in gesellschaftlichen Prozessen und Institutionen. Das kritische Potential von Interventionen ist in diesem Sinne sowohl unter dem Gesichtspunkt der Herstellung von Differenz und Sichtbarkeit, von Machtverhältnissen, Verhaltensmodellen und Kommunikationsstrukturen als auch als Form der Innovation zu thematisieren. Daraus ergeben sich die (erweiterten) Fragen nach dem Potential, den Grenzen und einer neuen Definition des Politischen in der Kunst heute, nach ihren Freiheitsräumen und Handlungsspielräumen sowie den Möglichkeiten von Transformation im Spannungsfeld von Kunst, Politik und Ökonomie.

Daran schließt ein weiterer wichtiger Gesichtspunkt der historischen Kontextualisierung und der Befragung der Möglichkeiten eines Anschlusses gegenwärtiger interventionistischer Handlungsformen an avantgardistische künstlerische Praxen an. Die Konstituierung einer transnationalen interventionistischen Post-Avantgarde-Bewegung bietet umgekehrt den Anlass einer Re-Evaluierung der politischen Theorie und Praxis der  Avantgarden und Neo-Avantgarden.

Hinsichtlich des Verhältnisses von Integration und Desintegration ist auch das Spannungsfeld von Ausstellungs-, Kultur- und Gesellschaftspolitik zu betrachten, in dem Museen und Ausstellungen als symbolisch besetzte kulturelle Institutionen und Produzenten von Bedeutung zum Gegenstand interventionistischer Praxis werden und wiederum politische Tendenzen der Kunst aufnehmen. Ferner ist die Frage nach einer Neustrukturierung des Kunstmarkts und des Ausstellungswesens angesichts interventionistischer Praxen zu stellen.

Ein zentraler Stellenwert kommt in der Befragung des neuen Verhältnisses von Kunst und Politik der Besetzung sozialer Räume zu. Auch hier zeigt sich eine Problemkonstellation zwischen der künstlerischen Okkupierung und Befragung sozialer Räume (z.B. in der Street Art und den Surveillance Arts/Studies), Prozessen der Gentrifizierung, Privatisierung und Kommerzialisierung urbaner Räume sowie der forcierten Kontrolle und dem Verschwinden des öffentlichen Raumes. Formen der Intervention als soziale Interaktion oder Cultural Performance wären in diesem Zusammenhang auch als ästhetisch-performative Befragung sozialer Des/Integration und gesellschaftlicher Normbereiche zu thematisieren.

Einen zentralen Themenbereich stellt außerdem die Verlagerung des künstlerischen Aktionismus von physikalischen in mediale und virtuelle Räume dar, z.B. im Rahmen der Creative Commons, der Open Source-Bewegung und in Formen der Appropriation digitaler Software. Hierbei sind Kontexte der Information, Ökonomie und Globalisierung ebenso relevant wie Bezüge zu popkulturellen Bewegungen (z.B. Cultural Jamming). Die (kritische) Bezugnahme auf popkulturelle und massenmediale Produktionen und Formen der Repräsentation bildet auch die Folie der Thematisierung einer Politik der Bilder und einer Politik des Selbst in selbstreflexiven medialen, präsentativen und performativen Praxen, die auf die spezifische Krisenkonstellation und Diskursformation der Spätmoderne (Krise der Repräsentation, Krise der Individualitäts- und Subjektkonzeption) bezogen sind. Die diskursive Anbindung und Einbindung ästhetischer und politischer Praxen ist allerdings nicht nur hinsichtlich einer Thematisierung des Politischen im Kontext einer Visual Culture oder einer an die Gegenkultur angebundenen Feminist, Black oder Queer Culture und einer auf diese bezogene ‚Politik der Differenz’ (Stuart Hall/Mark Sealy) relevant: Quasi-institutionelle Diskursformationen und Symbolisierungspraxen scheinen vielmehr zu einem zentralen Bezugspunkt zu werden, über den, ‚symbolisches Kapital’ (Pierre Bourdieu), die Produktion von Wissen (Gilles Deleuze/Felix Guattari) und ‚Biopolitik’ (Michel Foucault) in der Informationsgesellschaft ausgehandelt werden.

 

 

 

 

INTERVENTIONS

International and interdisciplinary symposium,
Universität Paderborn (Germany), Oct. 29 – 31, 2010
 

INTERVENTIONS – the title of this symposium refers to a new trend and transnational movement treading the borderline between art, politics and economy which became noticeable in different aesthetic and socio-political sectors since the 1990s. Nevertheless this movement could not be described as a phenomenon in terms of an artistic or political formation of groups. Instead, it seems more likely to conceive it as a global counterculture against the neo-liberalism as well as against the well-established art business. Like the word avant-garde the term intervention originally emerges from a military background and describes the mediation along with the interference in (critical) situations. It comprises comparable but at the same time heterogeneous and highly diverse forms of artistic practices which refer to concrete social and political problems and circumstances. The artistic intervention can take place in areas and institutions of art; however, an increasingly large part is to be located on the streets, in public spheres of daily life, in the physical space of cities and also in differentiated media sectors, the internet in particular. The term ranges from the terrain of anti-globalisation movement and genetic engineering to the management of multi-national corporations, while furthermore being influenced by modern nomadism on the margins of society as well as by forms of ‘branding’, which affect the social sector (Naomi Klein).

Since the late ‘90s the major international exhibitions (i.e., the documenta 9, 10 and 11, the Biennale 2003 and the Manifesta 5) again focus on the political dimensions of art. In 2004 the ARTFORUM opened a ‘political season’ in the United States, which – for the first time – dedicated an exhibition to the ‘interventionists’: ‘The Interventionists. Art in the social Sphere’ (MASS MoCA 2004). In 2008 it was followed by large exhibitions about ‘Street Art’ in Berlin and London. At the same time, a reassessment of the historical precursors of the interventionist movement, the historical avant-gardes and theorist Guy Debord amongst the Situationist International occurred as topic for publications, conferences and exhibitions. Whereas the production of site- and time-specific situations is a model for new forms of art, it increasingly fuels new marketing concepts (situationist marketing, guerrilla marketing campaigns, etc.) likewise.

The symposium endeavours to bring together scientists from different disciplines (i.e., art and media studies, sociology, psychology, anthropology and philosophy, as well as theatre, performance, Gender and Urban Studies), artists from different fields of interventionist action and curators alike for an interdisciplinary dialogue. Aim of the symposium is a survey of the current conditions for interaction of art and politics, with a special focus on artistic actions and manifestations resulting from the interventionist dimension of art. The symposium also asks for concrete changes and opportunities in sophisticated fields of the aesthetical and political practice. Essentially, the questioning of a new balance of the relationship between art and politics is based on the necessity of a redefinition of the artist’s role – ‘of what artists historically and currently do and of what they will do in the future’ (Richard Serra). The need of a survey and description of current changes in the contours, concepts and circulation of the artistic discourse is likely pending – connected with the question about potential paradigms within a new ‘regime of art’ (Jacques Rancière).

At this, change of the traditional (aesthetical) cultural criticism appears to be of special significance, since becoming influenced by tendencies of economic criticism as well as by practices of integration and exclusion within social systems and institutions. The critical potential of interventions in these terms should be analysed with focus on the production of difference and visibility, balances of power, communication structures and behavioural models and patterns. It additionally has to be conceived as a form of innovation. From this derives a necessity to question and (re-)define potentials and limits of the political dimension of contemporary art along with its scopes of development and action respectively. Further, there should be an emphasis on thinking about possible transformations amidst the conflicting demands of art, politics and economy.

Moreover, a historical contextualisation is of vital importance – along with the question of how far contemporary interventionist action could be differentiated from and affiliated with artistic avant-garde practices. Vice versa, the formation of a transnational, interventionist post-avant-garde movement gives reason to re-evaluate the political theory and practice of the actual avant-gardes and neo-avant-gardes.

The relation of exhibition-, culture- and socio-politics should also be subjected to closer examination with respect to the issues of integration and exclusion: To what extent do museums and exhibitions – perceived as cultural institutions with symbolic significance, aside as producers of meaning – become objects of interventionist action? In which manner do they integrate political tendencies of art? Is there a need to restructure the art business and exhibition system with regard to interventionist practices?

The assimilation of social spheres is an important topic as well: In this context it would be expedient to focus on aspects such as occupancy and questioning of social spaces (e.g., Street Art, Surveillance Arts/Studies), the process of gentrification, privatisation and commercialisation of urban locations, and the enforced control along with the disappearance of a public sphere. On top of this, different forms of intervention – conceived as social interaction or cultural performance – should be analysed as an aesthetic-performative survey of social des/integration and standardisations. Another central topic is the shifting of the actionism from physical spaces into the virtual space or the media – (cf. Creative Commons, the Open Source movement and the appropriation of digital software). At this point the contexts of information, economy and globalisation are as relevant as the relation to pop-cultural movements (such as Cultural Jamming). The (critical) reference to the products of pop culture and the mass media alongside their forms of representation, give sufficient reason to discuss ‘the politics of pictures’ and ‘the politics of the self’ in self-reflexive, presentative and performative media practices, which are apparently based on specific crisis situations and postmodern discourses (crisis of representation, crisis of individuality and subject conception). However, the discursive connection and integration of aesthetical and political practices appears to be significant – not only in the political context of a Visual Culture or in association with a counterculture such as the Feminist, Black or Queer Culture and the ‘politics of difference’ (Stuart Hall/Mark Sealy): In fact, quasi-institutional discourse formations and practices of symbolisation appear to become a centre of reference where ‘symbolic capital’ (Bourdieu), the production of knowledge (Deleuze/Guattari) and ‘biopolitics’ (Foucault) are negotiated by the information society.